Der Hintergrund: Unsere Mädchen aus der Ruschestraße hatten sich schon seit langem gewünscht, Schwimmen zu lernen und meine Freunde, Freundinnen und Verwandten hatten mir zum Geburtstag eine Spende zu Gunsten unseres Schwimmprojektes geschenkt. Es kam genügend Geld zusammen, um den 12 Mädchen 10 Einheiten eines Schwimmkurses in der Anton Saekow Schwimmhalle zu finanzieren. Die Eltern der Mädchen waren auf einer extra einberufenen Elternversammlung gewonnen worden – mithilfe u.a. des Fotos von Sunita (12) im normalen Einteiler-Badeanzug und mithilfe von Abir Alhaj Mawas, der syrischen Kollegin von Terre des Femme, die sehr passend aus dem Koran zitieren konnte. Alle Eltern hatten nach der Zusicherung, dass wir eine reine Mädchengruppe mit einer weiblichen Schwimmlehrerin sein würden, schriftlich ihre Einwilligung gegeben.
Soweit so gut. Die Finanzierung war gesichert, Renate Grandke hat die Badeanzüge besorgt und Uta Zacharias die Kontakte zur Schwimmhalle und zur Schwimmlehrerin hergestellt. Die erste Schwimmstunde würde am Mittwoch, dem 18. Januar stattfinden.
Etwas hatten wir allerdings nicht bedacht. Nämlich dass in der großen Schwimmhalle möglicherweise auch Jungen zugegen sein würden. Als mir das am Tag vor dem Ereignis viel zu spät einfiel, war es nicht mehr möglich, die Mädchen darauf vorzubereiten.
Über die Schwimmstunde Nr. 1, bei der ich nicht anwesend sein konnte, liefen alsbald schlimme Berichte bei mir ein. Völlig entsetzt hätten die Mädchen reagiert, als sie die Jungens in der Schwimmhalle entdeckten. »Barbara hat doch gesagt, da wären keine Jungs!« Nur mit Mühe sei es ihr gelungen, erzählte mir Uta, alle Mädchen in das Lernschwimmbecken zu bugsieren, das getrennt neben dem großen Schwimmbecken liegt und gut einsehbar ist. Schlussendlich hatten dann doch alle Mädchen ihren Spaß, forderten jedoch einmütig Burkinis. Am nächsten Tag wurde mir von der Heimleitung berichtet, dass nur noch 4 Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen wollten.
Am darauf folgenden Montag, unserem nächsten Kurs-Termin, fuhr ich mit äußerst gemischten Gefühlen zur Ruschestraße. Für mich stand nach wie vor fest: von uns finanzierter Schwimmunterricht wird nur in einem normalen Badeanzug stattfinden. Aber die Mädchen machten offenbar nicht mit! Wahrscheinlich würden heute nur die vier Willigen, oder gar niemand zu meinem Kurs kommen.
Und dann passiert ein kleines Wunder. Als ich kurz nach 15:30 Uhr die Unterkunft in der Ruschestraße betrat, rannten 12 Mädchen mit großem Hallo auf mich zu, umarmten mich stürmisch und schrien mir laut zu: »Barbara, Barbara! Wir haben ein Problem!« Noch nie waren die Mädchen so pünktlich gewesen! Noch nie waren alle von Anfang an da! Heute waren alle da und pünktlich wie die Maurer.
In unserem Übungsraum entspannte sich dann eine Gesprächsrunde wie ich sie noch nie mit Kindern dieses Alters (8–12 Jahre) erlebt habe. Die Mädchen brachten ihre Argumente leidenschaftlich vor, gaben zu, dass zwar nicht die deutschen, wohl aber die arabischen Jungen „guckten“; erklärten, dass Schönheit gefährlich sei und deshalb verdeckt werden müsse; dass sie die Arme und die Beine verbergen müssten und dass sie in die Hölle kämen, wenn sie sich unbedeckt zeigen würden.
Mit der Unterstützung von Abir, die trotz starker Unpässlichkeit, in die Ruschestraße gekommen war, sprachen wir dann über Jungens, über deren Blicke, über die nackten Arme und Beine von Mädchen,
über das Paradies und die Hölle und wodurch und warum man zu dem einen oder zu dem anderen Ort gelangen würde: ob wegen irgendwelcher Kleidungsstücke – Kopftuch, Burkini oder Niqab – oder weil man ein guter Mensch ist und anderen hilft. Warum der Verzehr von Schweinefleisch zur Zeit Mohammeds verboten wurde, jedoch heute ungefährlich ist; und ob Allah nicht auch die Schweine geschaffen hat. Dass jeder das essen darf, was ihm schmeckt, und dass Vegetarier gar kein Fleisch essen mögen. Ob Nicht-Muslime auch gute Menschen sein und ins Paradies kommen können und dass Menschen unterschiedliches glauben und doch gute Menschen sein können. Und wir haben auch darüber gesprochen, warum Männer ein Interesse daran haben könnten, Frauen klein, schwach und unsichtbar zu machen.
Nur eine Minderheit der Mädchen, 3 oder 4, bestand von Anfang an darauf, dass sie kein Problem hätten, dass sie nicht wegen der Jungen, sondern um Schwimmen zu lernen in die Badeanstalt kommen – und überzeugten allmählich den Rest. Abir, die selbst Muslima ist, konnte den Mädchen durch eine liberale Koraninterpretation glaubhaft versichern, dass der Prophet mit Sicherheit nichts dagegen haben würde, wenn sie in Deutschland ohne Kopftuch gehen und in einem normalen Schwimmanzug schwimmen lernen. Und ich konnte ihnen einen kleinen Einblick in das System und die Methoden der archaischen Frauenunterdrückung vermitteln, die lange vor Mohammed erfunden wurde und nichts mit Religion zu tun hatte. Jedenfalls waren am nächsten Mittwoch alle 12 Mädchen zur Stelle, alle trugen ihren Badeanzug und selbst Sahar, die eifrigste Verfechterin der Verschleierung, die sogar einen Kurzarmburkini mitgebracht hatte, ließ diesen im Schrank.
Diese Diskussion, die ausschließlich auf Deutsch ausgetragen wurde, und bei der die Mädchen so ernsthaft und so konzentriert, so offen und so aufmerksam beim Zuhören und beim Verstehen argumentiert hatten, hat mich tief beeindruckt. Diese Mädchen sind nicht nur willens zu lernen, sie sind auch bereit, tief eingepflanzte Vorurteile und Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit nach und nach abzulegen. Der Schwimmunterricht, die Freude an der Bewegung im Wasser und das Vorbild von erwachsenen Frauen, zu denen sie Vertrauen haben, trägt mehr bei zum allmählichen Abbau der früh eingepflanzten weiblichen Scham- und Schuldgefühle als alles reden.